Ukraine wirft Russland "Massaker" an Zivilisten in Kiewer Vorort Butscha vor
"Gräueltaten", "Massaker", "Kriegsverbrechen": Berichte über die mutmaßlich gezielte Tötung zahlreicher Zivilisten durch russische Truppen in einem mittlerweile von der ukrainischen Armee zurückeroberten Vorort von Kiew haben international für Entsetzen gesorgt. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warf der russischen Armee am Sonntag ein "absichtliches Massaker" in Butscha vor. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem "Völkermord". Auch die Bundesregierung zeigte sich entsetzt und kündigte härtere Sanktionen gegen Russland an.
Die "Verbrechen des russischen Militärs" in Butscha müssten "schonungslos" aufgeklärt werden, forderte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). "Dieses furchtbare Kriegsverbrechen kann nicht unbeantwortet bleiben", sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) der "Bild".
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nannte die Bilder der "hemmungslosen Gewalt" aus Butscha "unerträglich". "Wir werden die Sanktionen gegen Russland verschärfen und die Ukraine noch stärker bei ihrer Verteidigung unterstützen", kündigte sie im Onlinedienst Twitter an.
Auch EU-Ratspräsident Charles Michel verurteilte die "Gräueltaten" in Butscha. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron rief dazu auf, die russischen Verantwortlichen für "diese Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen". US-Außenminister Antony Blinken sprach angesichts der schockierenden Aufnahmen von "einem Schlag in die Magengrube". Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte dem US-Sender CNN, eine solche "Brutalität gegen Zivilisten" sei in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen worden.
Die russische Armee hatte sich zuletzt aus der Region um Kiew zurückgezogen. In Butscha wurden danach laut Angaben der ukrainischen Behörden mehr als 300 Leichen gefunden. AFP-Reporter berichteten, dass zahlreiche Toten zivile Kleidung getragen hätten. Sie sahen auf einer einzigen Straße in Butscha mindestens 20 Leichen liegen.
"Alle diese Menschen wurden erschossen", sagte Bürgermeister Anatoly Fedoruk. Nach seinen Angaben mussten 280 Menschen in Butscha in Massengräbern beigesetzt werden, da die drei städtischen Friedhöfe noch in Reichweite des russischen Militärs lagen.
Am Sonntag meldeten die Behörden den Fund dutzender weiterer Leichen in Butscha. 57 Menschen seien in einem Massengrab verscharrt worden, teilten die Rettungskräfte mit.
Selenskyj warf Russland einen "Völkermord" in der Ukraine vor. "Wir haben mehr als hundert Nationalitäten. Hier geht es um die Zerstörung und Vernichtung all dieser Nationalitäten", sagte Selenskyj dem US-Sender CBS. Außenminister Kuleba forderte von der Gruppe sieben wichtiger Industriestaaten (G7) "neue verheerende" Sanktionen gegen Russland.
Die ukrainische Regierung wertete den russischen Rückzug aus dem Großraum Kiew und der weiter nördlich gelegenen Region Tschernihiw als Beleg für einen Strategiewechsel: Moskau wolle sich stärker darauf konzentrieren, eroberte Gebiete im Süden und Osten der Ukraine zu halten.
Die russische Armee flog am Sonntag einen Luftangriff auf ein Industriegebiet nahe der südukrainischen Hafenstadt Odessa. See- und luftgestützte Raketen hätten eine Ölraffinerie und drei Lager zerstört, erklärte das Verteidigungsministerium im Moskau. Die ukrainische Seite erklärte, es habe keine Opfer gegeben und mehrere russische Raketen seien im Anflug abgeschossen worden. Odessa hat den größten Hafen der Ukraine und ist zentral für die Wirtschaft des gesamten Landes.
Selenskyj erwartet auch "mächtige Angriffe" im Osten, vor allem auf das belagerte Mariupol. Die strategisch wichtige Stadt am Asowschen Meer steht seit Wochen unter massivem Beschuss der russischen Streitkräfte. Nach ukrainischen Angaben wurden dort seit Kriegsbeginn mindestens 5000 Menschen getötet, etwa 160.000 Zivilisten sollen in der weitgehend zerstörten Stadt noch festsitzen. Die humanitäre Situation ist katastrophal.
Eine Evakuierungsaktion des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) aus Mariupol war am Freitag aus Sicherheitsgründen abgesagt worden. Laut Selenskyj konnten dennoch mehr als 3000 Einwohner mit Bussen und Privatfahrzeugen "gerettet" werden.
Der ukrainische Chefunterhändler David Arachamia meldete unterdessen angebliche Fortschritte in den Friedensverhandlungen mit Moskau und äußerte die Hoffnung auf ein Treffen Selenskyjs mit Kreml-Chef Wladimir Putin. Der russische Unterhändler Wladimir Medinski erklärte hingegen, er teile den "Optimismus" der ukrainischen Delegation nicht.
C.M.Diaz--ESF