Aktivisten: Dschihadisten in Syrien rücken vor - Armee leistet kaum Widerstand
Dschihadistische Kämpfer in Syrien haben bei ihrem Vorrücken im Nordwesten des Landes Aktivistenangaben zufolge die Hälfte der Stadt Aleppo erobert. "Die Hälfte der Stadt Aleppo ist jetzt unter der Kontrolle von Hajat Tahrir al-Scham und verbündeten Gruppen", sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, der Nachrichtenagentur AFP am Samstag. Die syrischen Regierungstruppen leisteten demnach keinen wesentlichen Widerstand.
"Als die Regimekräfte sich zurückzogen gab es keine Kämpfe, nicht ein einziger Schuss ist gefallen", fügte Rahman hinzu. Im Stadtteil Neu-Aleppo kam es zu Kämpfen, wie ein AFP-Reporter vor Ort berichtete.
Der syrische Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida, Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und verbündete Gruppen hatten am Mittwoch eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der syrischen Regierung gestartet - es sind die heftigsten Kämpfe seit dem Jahr 2020. Rahman zufolge drangen die Islamisten am Freitag in die Großstadt Aleppo ein. Die Region wurde bisher größtenteils von der Regierung kontrolliert.
Laut syrischen Medien wurde Aleppo auch erstmals seit vier Jahren von HTS bombardiert. Vier Zivilisten wurden demnach getötet, als die Dschihadisten ein Studentenwohnheim angriffen.
Die Provinz Aleppo grenzt an die letzte große Rebellen- und Dschihadisten-Hochburg Idlib. HTS-Kämpfer kontrollieren große Teile von Idlib, aber auch angrenzende Gebiete in den Regionen Aleppo, Hama und Latakia.
Rahman zufolge leistete die syrische Armee beim Vorstoß der Dschihadisten auf Aleppo bereits zuvor keinen nennenswerten Widerstand. Demnach erreichten die Kämpfer die Tore der Stadt, "nachdem sie zwei Selbstmordanschläge mit Autobomben verübt hatten".
Die syrische Regierung hatte hingegen mitgeteilt, die Armee habe die "Großoffensive bewaffneter Terrorgruppen" auf Aleppo abgewehrt und mehrere Stellungen zurückerobert. Die Armee entsandte Verstärkung in die zweitgrößte Stadt Syriens, in deren Umkreis es Regierungsangaben zufolge bereits zuvor zu "heftigen Kämpfen und Zusammenstößen" gekommen war.
"Zum ersten Mal seit fast fünf Jahren hören wir ständig Raketen und Artilleriegranaten, manchmal auch Flugzeuge", sagte ein 51-jähriger Bewohner von Aleppo der AFP am Telefon. Die Menschen hätten Angst, "dass sich das Kriegsszenario wiederholt und wir gezwungen sein werden, aus unserer Heimat zu fliehen". Zwei Anwohner berichteten von Kämpfern auf der Straße und Panik.
Die syrischen Truppen wurden vom Verbündeten Russland unterstützt. Die russische Luftwaffe bombardiere "Ausrüstung und Personal illegaler bewaffneter Gruppen" zitierten russische Nachrichtenagenturen einen für Syrien zuständigen Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau. 200 Kämpfer seien bei den russischen Angriffen der vergangenen 24 Stunden getötet worden, erklärte der russische Ministeriumssprecher zudem.
Die Syrische Beobachtungsstelle meldete zudem 23 Luftangriffe syrischer und russischer Kriegsflieger auf die Rebellenhochburg Idlib.
Die Beobachtungsstelle erklärte, die Dschihadisten hätten innerhalb der vergangenen Tage bereits "mehr als 50 Dörfer und Städte" in den Regionen Aleppo und Idlib im Norden und Nordwesten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Am Freitag hätten die Dschihadisten die an einem Verkehrsknotenpunkt gelegene Stadt Sarakib eingenommen.
Nach Angaben der Beobachtungsstelle wurden seit Mittwoch mindestens 277 Menschen getötet, ein Großteil von ihnen Kämpfer auf beiden Seiten, aber auch Zivilisten, die demnach vor allem den russischen Luftangriffen zum Opfer fielen. Die Beobachtungsstelle mit Sitz in Großbritannien bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien. Ihre Angaben sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen.
Der syrische Bürgerkrieg hatte 2011 begonnen, nachdem Präsident Baschar al-Assad Proteste gegen die Regierung mit Gewalt niederschlagen ließ. Eine halbe Million Menschen wurden getötet und Millionen weitere vertrieben.
Mit der Unterstützung ihrer Verbündeten Russland und dem Iran erlangte die syrische Regierung 2015 die Kontrolle über weite Teile des Landes zurück. Auch die Großstadt Aleppo eroberte Assad im Jahr 2016 mit Unterstützung der russischen Luftwaffe und unter Einsatz massiver Bombenangriffe zurück.
Im Norden Syriens gilt seit 2020 ein von der Türkei und Russland vermittelter Waffenstillstand, der zwar immer wieder gebrochen wurde, aber die Region in den vergangenen Jahren weitgehend beruhigt hatte.
C.Ferreira--ESF